Unerwünschte Waldzunahme im Alpenraum

Kastanienveteran

Kastanienselve in Soazza (GR).

25. April 2016 – Soazza hat im Unterschied zu anderen Dörfern Glück gehabt. Im Misox gelegen, wird es nicht direkt durch die San Bernardino-Transitachse beeinträchtigt. Den Namen «Soazza» habe ich vor Jahren einmal im Studium gehört: Eine Architektin, die sich mit den Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung (ISOS) beschäftigte, schwärmte vom intakten Dorfkern. Im letzten Herbst hatte ich Gelegenheit, Soazza zu besuchen. Luca Plozza zeigte mir die wunderschönen Kastanienbäume in den wiederhergestellten Selven – uralte Bäume mit einer beeindruckenden Lebenskraft. Und seitdem die knorrigen Baumveteranen auf dem Mont Grand wieder mehr Raum haben, kommen sie richtig zur Geltung.

Soazza

Soazza verfügt über einen intakten Dorfkern.

Kürzlich fand in Soazza eine Tagung zur Waldausdehnung im Alpenraum statt. Die Zahlen beeindrucken, sind aber eigentlich seit Jahren bekannt: Gemäss dem Landesforstinventar nahm die Waldfläche zwischen 1980 und 2013 in den Alpen und auf der Alpensüdseite stark zu (um 18.3 bzw. 17.8 %). Einer vor zwölf Jahren durchgeführten Studie des Nationalen Forschungsprogramms 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» zufolge befinden sich drei Viertel der neuen Waldflächen in den Kantonen Graubünden, Tessin und Wallis. Betroffen sind vor allem extensiv genutzte Alpweiden. Gemäss Schätzungen sind rund zwei Drittel des Schweizer Sömmerungsgebietes waldfähig. Aktuelle Zahlen wurden auch im Rahmen des AlpFutur-Projektes ermittelt: Demnach gehen jedes Jahr Alpweiden im Umfang von 24 Quadratkilometern verloren. Das entspricht der Fläche des Walensees. Neueste Ergebnisse des Landesforstinventars deuten auf eine weiterhin hohe Waldzunahme in den Alpen hin. Auf der Alpensüdseite schwächte sie sich hingegen etwas ab.

Im Tessin und in Südbünden wuchsen in den letzten Jahrzehnten auch viele Kastanienselven ein. Vor etwa 30 Jahren begann man die Kastanienselven im Tessin wieder zu pflegen. Auch im Bergell und im Misox erlebten die Selven eine Renaissance. In Soazza ist die Dichte an uralten Kastanienbäumen besonders hoch.

Die Agronomin Priska Baur vom Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften präsentierte an der Tagung interessante Zahlen über die landwirtschaftliche Nutzfläche in Soazza. Von 2003 bis 2014 hat sich diese von gut 80 auf rund 150 Hektaren fast verdoppelt. Der Grund dafür sind vor allem die wiederhergestellten Selven. Die Bauern erhalten für deren Pflege Direktzahlungen, obwohl die Selven rechtlich als Wald gelten. Die Sömmerungsweiden – sie zählen nicht zur landwirtschaftlichen Nutzfläche – sind auch im Misox von der Wiederbewaldung betroffen.

Die Politik will bei der Wiederbewaldung Gegensteuer geben. Das Parlament revidierte 2012 das eidgenössische Waldgesetz. So können die Kantone neu auch ausserhalb der Bauzonen Flächen bezeichnen, wo sie eine Waldzunahme verhindern wollen. Sind diese Flächen in Nutzungsplänen eingetragen, wäre später keine Rodungsbewilligung nötig, wenn man diese wieder einer landwirtschaftlichen Nutzung zuführen möchte. Das Parlament vollzog somit einen Wechsel vom dynamischen Waldbegriff hin zu teilweise statischen Waldgrenzen. Was eigentlich für die von der Waldzunahme betroffenen Gebirgskantone gedacht war, wird nun aber vorwiegend in Mittellandkantonen umgesetzt – und zwar auf ihrem ganzen Territorium.

Dies vermag das Einwachsen von Alpweiden natürlich nicht verhindern. Der Schlüssel dafür läge in der Land- und Alpwirtschaftspolitik. Vor allem ins Sömmerungsgebiet müssten mehr Mittel fliessen. Eine gewisse Korrektur erfolgte mit der Agrarpolitik 2014-17. Neu werden zudem auch Biodiversitäts- und Landschaftsqualitätsbeiträge ausbezahlt. Die Aufstockung der Mittel fürs Sömmerungsgebiet auf insgesamt rund 250 Millionen Franken pro Jahr dürfte allerdings nicht ausreichen (Artikel AlpFutur – Tages-Anzeiger (.pdf)).

Somit stellt sich die Frage, was uns die Offenhaltung der Alpweiden wert ist. Ein Argument dafür ist die Förderung der Biodiversität, denn Graslandgesellschaften sind von hohem ökologischen Wert. Bärbel Koch untersuchte im Rahmen ihrer Doktorarbeit den Einfluss der Zwergsträucher auf die Artenvielfalt auf Alpweiden. Das Überhandnehmen von Zwergsträuchern bzw. die Verbuschung kann eine Vorstufe zur Wiederbewaldung sein. Zwergsträucher schmälern das Futterangebot und sind bei den Älplern deshalb nicht beliebt. Die Biologin konnte zeigen, dass eine Bedeckung mit Zwergsträuchern bis zu 50 Prozent die Artenvielfalt fördert, bei höherer Bedeckung nimmt sie wieder ab. Zudem zeigte sich, dass strukturreiche Weiden mit einem Mosaik von Grasland und Sträuchern auch exklusive Arten beherbergen. Die Kunst besteht darin, die Bewirtschaftung so zu gestalten, dass die Zwergsträucher nicht mehr als 30 bis 50 Prozent der Weidefläche bedecken.

Neben der Artenvielfalt spielen auch Ressourcenaspekte eine Rolle. Das Sömmerungsgebiet umfasst immerhin rund einen Drittel der landwirtschaftlichen Fläche der Schweiz. Alpweiden vergrössern die Futterbasis der Betriebe und verringern den Bedarf an importierten Futtermitteln. Doch höhere Beiträge für die Alpwirtschaft entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Betriebe im Tal genügend Tiere auf die Alp zur Sömmerung schicken (Artikel AlpFutur – Tages-Anzeiger (.pdf)). Es zeichnet sich ab, dass es der Landwirtschaft trotz Förderung über Direktzahlungen nicht gelingt, die Kulturlandschaft mit den traditionellen Nutzungsverfahren offen zu halten. Christian Flury von Agroscope präsentierte an der Tagung deshalb alternative (Minimal-)Nutzungsverfahren. Neben der Beweidung mit robusten Tierrassen zählt auch das Mulchen dazu.

Kastanienveteran2

Ein Baumveteran …

DidaktischesZentruminSoazza

Das Bildungszentrum steht Gruppen zur Verfügung …

KnorrigeKastanienbaum

Knorrige Stammformen in in der Selve bei Soazza …

 

 

 

 

 

 

 

 

Einfache Lösungen gibt es nicht. Soazza zeigt einen gangbaren Weg auf. Die Restaurierung der Kastanienselven ist ein Erfolg. Bei den Sömmerungsweiden erscheint eine weitere Wiederbewaldung hingegen unausweichlich. Mit einer gezielten und an konkreten Zielen orientierten Förderung der Alpwirtschaft kann der Trend aber verlangsamt und mittelfristig vielleicht sogar gestoppt werden. Damit kann die Schweiz das kulturelle Erbe der Alpwirtschaft langfristig sichern. Einen in der Region nicht unwichtigen Beitrag dazu könnte künftig auch der Parc Adula leisten. Der geplante Nationalpark umfasst nämlich nicht nur eine geschützte Kernzone. In der Umgebungszone kann er auch Projekte zur Förderung der Kulturlandschaft unterstützen, was bei der Wiederherstellung der Kastanienselven und der Instandsetzung von Trockenmauern bereits auch schon geschehen ist.

 

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