Tessiner Kastanienkultur

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Gepflegte Kastanienselve bei Vezio im Malcantone.

23. November 2014 – Vor mehr als zehn Jahren besuchte ich Carlo Scheggia, der als Förster im Malcantone wirkt. Er zeigte mir die wunderschöne Kastanienselve bei Vezio. Wie bei einer Streuobstwiese stehen in einer Kastanienselve Fruchtbäume locker verteilt auf einer Wiese, die gemäht oder beweidet wird. In der Basler Zeitung konnte ich 2003 einen Artikel über die Kastanienselven im Tessin veröffentlichen. Der Titel lautete: Vom «Brotbaum» zur heutigen Kastanienkultur.

Nachdem Carlo Scheggia mich am Bahnhof in Lugano abgeholt hatte, fuhren wir zuerst nach Arosio und tranken im San Michele einen Kaffee. Das Restaurant wird auch von Einheimischen aufgesucht. Seither war ich schon einige Male in diesem Albergo und wanderte auch auf dem Kastanienweg im Alto Malcantone – zum letzten Mal im Oktober dieses Jahres. Der Fonds Landschaft Schweiz lud ein, denn genau vor 20 Jahren unterstützte der Fonds zum ersten Mal ein Wiederherstellungsprojekt einer Kastanienselve. Es handelte sich um die Selve, die mir Carlo Scheggia bei meinem ersten Besuch im Malcantone zeigte.

In den letzten 20 Jahren hat der Fonds Landschaft Schweiz rund 3 Millionen Franken für die Wiederherstellung verwilderter Kastanienselven eingesetzt. In mehr als 60 geförderten Projekten wurden rund 230 Hektaren Selven zu neuem Leben erweckt. Die kleine Feier – die Mitglieder der Kommission des Fonds Landschaft Schweiz weilten für eine Sitzung im Tessin – fand natürlich in der Kastanienselve bei Vezio statt. Neben der versammelten Tessiner Forstszene war auch der Tessiner Staatsrat Claudio Zali zugegen.

Eine mit den Medienunterlagen abgegebene Karte zeigt, wo überall im Tessin sich Kastanienselven befinden. Im Malcantone ist die Dichte besonders hoch. Aber auch in der Leventina bis Lavorgo oder im oberen Maggiatal pflegte man die traditionelle Form der Kultivierung der Kastanienfruchtbäume. Vor rund 20 Jahren erlebte die Kastanienkultur eine Renaissance, und Kastanienprodukte erfreuen sich inzwischen grosser Beliebtheit.

Leider sind auch Rückschläge zu verzeichnen. Sorgen bereitet etwa die Kastaniengallwespe (Dryocosmus kuriphilus). Der aus Asien stammende Schädling erreichte vor einigen Jahren das Tessin und setzt den Kastanienbäumen stark zu. So fiel die Kastanienernte im Herbst 2013 ausgesprochen mager aus. Im Sommer sagte Giorgio Moretti, Forstingenieur beim Kantonsforstamt und Präsident der Associazione dei castanicoltori della svizzera italiana, im Gespräch, man habe dank der Wiederbelebung der Kastanienselven punkto Sensibilisierung der Bevölkerung für den Wald in den letzten 20 Jahren mehr erreicht als je zuvor. Doch dieser Erfolg sei nun in Frage gestellt. Erfreulicherweise ist die Ernte in diesem Herbst wieder etwas besser ausgefallen. Man weiss noch nicht genau, ob es mit der für die Bäume günstigen Witterung im Sommer zusammenhängt oder ob sich der inzwischen aus Italien eingewanderte Gegenspieler der Kastaniengallwespe, eine ebenfalls aus Asien stammende Schlupfwespenart (Torymus sinensis), schon verbreitet bemerkbar macht.

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Das Schulzimmer für einmal in der Kastanienselve.

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Die Beweidung soll verhindern, dass die Selve wieder einwächst.

Carlo Scheggia sieht die grosse Herausforderung vor allem darin, dass die Kastanienselven auch in Zukunft regelmässig gepflegt werden. Diesbezüglich stimmt der Besuch einer Schulklasse in der Selve von Vezio im Anschluss an die kleine Feier des Fonds Landschaft Schweiz zuversichtlich. Die Schüler und Schülerinnen aus Cademario lauschten auf den «Schulbänken» im Freien vor dem Kastaniendörrhäuschen aufmerksam, was ihnen zwei ältere Einheimische erzählten. Und sie freuten sich an den Ziegen, die plötzlich Leben in die Selve brachten. Den Tieren, die dem Bauer Renzo Boschetti gehören, sah ich schon mit Begeisterung zu, als ich zum ersten Mal in dieser Selve war. Das sind alles gute Voraussetzungen – nicht nur für die Erhaltung der Selve bei Vezio, sondern für die Kastanienkultur insgesamt.

 

Artikel Vom «Brotbaum» zur heutigen Kastanienkultur, erschienen in der Basler Zeitung am 10. Oktober 2003

Artikel Eine Wespe bedroht den Esskastanienwald, erschienen in der NZZ am 10. September 2014

Karte mit den Kastaninenselven im Tessin

 

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