Parc Adula – die entscheidende Phase beginnt

KlosterhofundKlosterDisentis

Könnte bald ein Tor zum Parc Adula sein: Disentis mit dem neuen Klosterhof.

21. November 2015 – Die ersten Ideen für die Gründung eines Nationalparks rund um das Rheinwaldhorn – auf italienisch Adula – entstanden vor 15 Jahren. 2008 gründeten die beteiligten Regionen den Verein Parc Adula als Trägerschaft des Nationalparkprojektes. Es wäre ein Nationalpark der neuen Generation: Der grösste Teil würde aus der Umgebungszone bestehen. Zusammen mit der 145 km2 umfassenden Kernzone würde der Parc Adula eine Fläche von 1250 km2 umfassen. Bei zehn der 17 beteiligten Gemeinden würden Teile ihres Territoriums in der Kernzone liegen.

Nun liegen die Charta und ein Reglement für die Kernzone vor. In der Kernzone wäre keine Jagd möglich. Ändern würde sich nicht viel, denn schon heute ist fast das ganze Gebiet als Jagdbanngebiet ausgeschieden. Die Wanderer und Bergsteiger müssten sich an die offiziellen Wege und Routen halten. Die alpwirtschaftliche Nutzung würde in einem ersten Schritt auf 25 Prozent der Kernzone begrenzt, und dieser Anteil soll langfristig auf 15 Prozent gesenkt werden. In die Kernzone kämen grosse Teile der aus dem Kampf gegen die Grosswasserkraft berühmt gewordenen Greina-Hochebene zu liegen. Läuft alles nach Plan, stimmen die Gemeinden nächstes Jahr über den Nationalpark ab. Derzeit finden Informationsveranstaltungen in den fünf Regionen Surselva, Viamala (Rheinwald), Mesolcina, Calanca und Valle di Blenio statt.

Als interessierter Beobachter nahm ich an der Veranstaltung im Kloster Disentis teil. Es wurden kritische Fragen gestellt. Die Atmosphäre war aber konstruktiv, und beim Apéro wurden die Gespräche weitergeführt. Tags zuvor in Vrin sei die Stimmung aufgeladener gewesen, hörte man sagen – was ein Beitrag des Schweizer Fernsehens auch bestätigt.

Vor 20 Jahren besuchte ich in München-Freising die Vorlesung von Wolf Schröder. Der Wildbiologe sprach viel über Nationalpärke. In Erinnerung geblieben ist mir, wie er sagte, dass die Akzeptanz eines Nationalparks zunehme, je weiter man von diesem entfernt sei. Damit dürfte die Zustimmung vor allem in urbanen Gebieten, die gar nicht direkt betroffen sind, gross sein – ein Phänomen, das sich auch bei der Einstellung zu Grossraubtieren beobachten lässt.

Wie kam es vor hundert Jahren zum Schweizerischen Nationalpark im Unterengadin? Naturschützer aus dem Unterland und ein mit der Region vertrauter Förster, der aber in Bern als Eidgenössischer Forstinspektor tätig war, machten sich auf die Suche nach einem geeigneten Gebiet. Nach schweizerischem Staatsverständnis mussten die Gemeinden ihre Zustimmung geben. Für den Verzicht auf die Nutzung der Flächen im Parkperimeter erhielten die Gemeinden Pachtzinsen. Eine kritische Situation ergab sich, als vor 60 Jahren die Spöl-Kraftwerke realisiert wurden. Schlieslich gelang es, einen Kompromiss zu finden.

Heute legt der Bund auf der Basis des Natur- und Heimatschutzgesetzes und der Pärkeverordnung den Rahmen der neuen Nationalpärke fest. Im Gegenzug übernimmt er 60 Prozent der Kosten. Die Initiative für die Gründung eines Nationalparks muss aus den Regionen kommen. Die Bevölkerung aller beteiligten Gemeinden entscheidet sich in Abstimmungen dafür oder dagegen. Und nach zehn Jahren kann sich die Bevölkerung erneut über die Fortsetzung des Nationalparks äussern.

Wenn die Feststellung von Wolf Schröder stimmt, dann wird es schwierig, Mehrheiten für den Parc Adula zu bekommen. Ein Blick in den nördlichen Schwarzwald ist aufschlussreich. Dort wurde am 1. Januar 2014 der erste Nationalpark Baden-Württembergs gegründet. In den nahe gelegenen Gemeinden gingen die Wogen hoch; entschieden wurde im Landtag, dem Parlament des Bundeslandes. Eine repräsentative Umfrage ergab nun aber, dass die Zustimmung in der Bevölkerung in der näheren Umgebung des Nationalparks Schwarzwald vielleicht doch grösser ist als angenommen.

Wie stehen die Chancen für den Parc Adula? In einigen Gemeinden wie Vrin oder Sumvitg machen die Gegner mobil. Wie die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung wirklich sind, ist jedoch schwer abschätzbar. Vielleicht kommt es plötzlich zu einer überraschenden Dynamik, die dem ehrgeizigen Projekt zum Durchbruch verhilft. Dass ein Nationalpark bottom-up gegründet wird, dürfte es bisher kaum gegeben haben. Wenn nun Valser, Romanen, Tessiner und Italienischbündner den Nationalpark befürworten, dann schafft die Bevölkerung rund um das Adula-Gebiet etwas Einmaliges – und in Zürich, Basel und Bern würde man das erstaunt bis bewundernd zur Kenntnis nehmen.

An der Informationsveranstaltung in Disentis ermunterte Hansjörg Hassler, Präsident des Naturparks Beverin, die Bevölkerung, den Schritt zum Nationalpark zu machen. Pärke seien Sympathieträger, sagte der BDP-Nationalrat, der in diesem Herbst nicht mehr kandidierte. Ebenso klar wurde aber, dass es an den Menschen und Gemeinden liegt, etwas daraus zu machen und die sich bietenden Chancen zu nutzen.

SenneriaDisentis

Die Sennaria Surselva sorgt für Wertschöpfung im Tal.

In Disentis gibt es heute schon gute Beispiele. So errichtete das Kloster den eigenen Hof vor einigen Jahren neu, nachdem der alte abgebrannt war. Gion A. Caminada schlug vor, nicht nur das Gebäude wieder aufzubauen, sondern ein Zentrum zu schaffen, das sich dem Thema Landwirtschaft im Berggebiet widmet. Gleich neben dem Klosterhof ist auch eine moderne Sennerei gebaut worden, die die Milch aus der Region verarbeitet. Ein Nationalpark könnte mithelfen, in der Umgebungszone solche Projekte zu fördern, während in der Kernzone der Natur grundsätzliche eine freie Entwicklung zugestanden wird.

Nötig wäre in der Schweiz eine grundsätzliche und ehrliche Diskussion über die Perspektiven des Alpenraums – und zwar nicht der Tourismuszentren, sondern der abgelegeneren Täler in den Randregionen. Wie kann ein fairer Ausgleich zwischen Agglomerationen und Berggebiet künftig aussehen? Beide Pole haben ihre Trümpfe: die Städte mit ihrem kulturellen Angebot und ihrer wirtschaftlichen Potenz, das Berggebiet mit seinen Landschafts- und Naturwerten. Neue Formen der Kooperation sind gefragt. Und gerade ein Parc Adula wäre eine ideale Plattform, um neue Wege zu beschreiten.

Es geht nicht um die Frage Nationalpark oder Status quo. Die Dinge werden sich in den kommenden Jahren in jedem Fall verändern. Die Frage ist viel mehr, wie eine Randregion ihre Zukunft mitgestalten kann und welche Entwicklung sie anstreben möchte. Und die Städter müssen die Frage beantworten, was ihnen ein von Menschen bewohnter Alpenraum jenseits von Skiresorts wert ist. Die Schweiz als Alpenland müsste sich mit diesem Thema auseinandersetzen.

Das Projekt Parc Adula könnte nationale Bedeutung bekommen, meinte Gion A. Caminada in einem Interview mit der Sonntagszeitung. Es würde nämlich ein Gebiet bezeichnet, wo eine andere Entwicklung stattfinden könne – ein Typus, den man, so Caminada, im städtebaulichen Portrait des ETH Studio Basel vergessen habe. Dieses unterscheide im Berggebiet lediglich zwischen alpinen Brachen und Resorts. Und der Bündner Architekt aus Vrin kommt zur bedenkenswerten Schlussfolgerung: «Es ist kein utopischer Gedanke, wenn ich behaupte, hier könnte die Identität der Schweiz einen neuen Ansatz finden.»

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