Revision der Stauanlage Punt dal Gall bei vollem See

StaumauerPuntdalGall

Eine spektakuläre Baustelle mit aussergewöhnlichem Zugang.

26. Juni 2016 – Die Stauanlage Punt dal Gall des Livignosees ist in die Jahre gekommen. Verschiedene Teile der Anlage bedürfen einer umfassenden Revision, damit der Stausee der Engadiner Kraftwerke weiterhin sicher betrieben werden kann. Am Freitag fand die offizielle Eröffnung der aussergewöhnlichen Baustelle statt (weitere Fotos unten).

Das Spezielle in Punt dal Gall: Der See wird nicht entleert. Stattdessen kommen Taucher zum Einsatz. Diese montieren je einen Deckel bei den Einläufen zum Grundablass sowie für das Dotierwasser, der den Spöl mit Restwasser versorgt. Anschliessend können die Sicherheitsorgane von der Staumauer her im Trockenen revidiert werden.

Die Taucher leben bis zu einem Monat in engen Druckkammern. Mit einer Tauchglocke gelangen sie zu ihrem Arbeitsort am Fuss der Staumauer, wo sie ins Wasser steigen. Dort herrscht mit 10 bar derselbe Druck, wie in der Druckkammer. Um den Körper wieder an die normalen Druckverhältnisse anzupassen, darf der Druck nur langsam verringert werden. Bei den in Punt dal Gall herrschenden Druckunterschieden dauert die Dekompression fünf Tage. Ohne Druckkammer wären Taucharbeiten bei einer Wassersäule von 100 Metern nicht möglich. Die Arbeitsbedingungen sind vergleichbar mit einer Weltraumstation. Weltweit arbeiten nur etwa 100 Personen als sogenannte Sättigungstaucher, Astronauten gibt es mehr.

Die Engadiner Kraftwerke entschieden sich für das aufwendige Sättigungstauchen, weil man das mit einer Entleerung des Sees verbundene Risiko eines Schlammeintrags in den Spöl nicht eingehen wollte. Vor drei Jahren kam es nämlich zu einer gravierenden Panne. Bei sehr tiefem Seestand gelangte über die Dotieranlage Schlamm in den Spöl. Am 30. März 2013 stellten Nationalparkwächter fest, dass die Wasserzufuhr unterbrochen war. Die Dotierwasserfassung war verstopft. Um den Spöl möglichst rasch wieder mit Wasser zu versorgen, öffneten Mitarbeiter des Kraftwerks den Grundablass, worauf noch mehr Schlamm aus dem Stausee in den Spöl eingetragen wurde (siehe auch Interview mit Michael Roth über den genauen Hergang, auch als pdf aufgeschaltet). Die verendeten Bachforellen und Seesaiblinge boten ein trauriges Bild. Erst später zeichnete sich ab, dass genügend Fische überlebten, um eine neue Population aufzubauen.

Bereits ein Jahr vorher hatte der Spöl meine Aufmerksamkeit geweckt. Seit einiger Zeit finden dort jedes Jahr künstliche Hochwasser statt. Dank diesen hat sich der ökologische Zustand des Spöls markant verbessert. Und eine bemerkenswerte Parallele: Auch im Grand Canyon wird versucht, mit künstlichen Hochwassern dem Colorado einen Teil der fehlenden Dynamik zurückzugeben. Glücklicherweise ist die konstruktive Zusammenarbeit der künstlichen Hochwasser durch die Panne im März 2013 nicht beendet worden. Auch erholte sich der Spöl erstaunlich rasch.

Dank der Zusammenarbeit der Engadiner Kraftwerke, dem Schweizerischen Nationalpark und dessen Forschungskommission gelang es, alte Gräben aus der Zeit des Kraftwerkbaus Mitte des letzten Jahrhunderts ein Stück weit zu überwinden. Die Auseinandersetzung endete damals mit einem durch die Schweizer Bevölkerung in zwei Volksabstimmungen gutgeheissenen Kompromiss: Das Kraftwerk konnte mit einigen Abstrichen realisiert werden; der Spöl im Nationalpark war aber fortan ein stark beeinträchtigter Gebirgsbach. Zusammen mit dem Streit um das Kraftwerk Rheinau ebneten die emotionalen Debatten aber den Weg für das wegweisende Eidgenössische Natur- und Heimatschutzgesetz.

Weshalb aber weckt die Situation im Unterengadin auch heute noch unser Interesse und viele Emotionen? Selten treffen die beiden Pole «Schutz» und «Nutzung» der Natur so schroff aufeinander. Beide Anliegen haben ihre Berechtigung: Die Erzeugung von Strom aus Wasserkraft – aber auch die Nationalparkidee, auf einer bestimmten Fläche, der Natur freien Lauf zu lassen. Die Balance zwischen Schützen und Nutzen der natürlichen Ressourcen – das ist eine der ganz grossen Herausforderungen unserer Zeit. Zum Teil sind Kompromisse möglich. Eine angepasste Nutzung ist bisweilen sogar Voraussetzung, um eine aus Sicht der Biodiversität wertvolle Kulturlandschaft zu erhalten. Manchmal schliessen sich bestimmte Zielsetzungen aber auch aus.

Dabei ist zu bedenken, dass der Mensch ohne Eingriffe in die Natur nicht überleben kann. Dieses Dilemma auf den Punkt gebracht hat der deutsche Naturschützer Michael Succow: «Lassen wir die Natur unverändert, können wir nicht existieren; zerstören wir sie, gehen wir zugrunde. Der Gratweg zwischen Verändern und Zerstören kann nur einer Gesellschaft gelingen, die sich mit ihrem Wirtschaften in den Naturhaushalt einfügt und die sich in ihrer Ethik als Teil der Natur empfindet.»

Impressionen von der Baustelle:

Arbeitsplattform von der Krone der Staumauer
Arbeitsplattform vom See gesehen
Absenken der Tauchkapsel mit zwei Tauchern an Bord
Abschlussdeckel für den Dotierwassereinlauf
Provisorische Restwasserversorgung

Artikel auf Espazium vom 24. November 2016: Revision der Stauanlage Punt dal Gall

Artikel im TEC21 vom 25. November 2016: (.pdf-Dokument)

Interview und Artikel im TEC21 vom 3. Oktober 2014 zur Erneuerung von Speicherkraftwerken (.pdf-Dokument)

Artikel und Impressionen vom Spöl bei einer Fischzählung ein Jahr nach der Panne (.pdf-Dokument)

 

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