Wie der 24. Februar 2022 die Welt veränderte

In Uschhorod, der Haupstadt Transkarpatiens, im Juli 2010.

15. März 2022 – Dass im Osten der Ukraine an der Grenze zu Russland aus dem seit Jahren schwelenden gewaltsamen Konflikt sich ein Krieg entwickeln könnte, zeichnete sich ab. Was dann aber am 24. Februar 2022 und in den folgenden Tagen geschah, übersteigt das Fassbare. Nachdem ich einen Tag vor Ausbruch des Kriegs ein Gespräch mit Juri Andruchowytsch hörte, war mir klar, dass mit allem zu rechnen war. Aber auch Andruchowytsch kann und will sich eine Rückkehr zur alten Zeit vor der Unabhängigkeit nicht vorstellen. Er lebte 31 Jahre in der Sowjetunion und 31 Jahre in der unabhängigen Ukraine. Und nun herrscht Krieg.

Ein weiterer sehr interessanter Beitrag war das Gespräch mit dem Historiker Fabian Baumann, der die gegenseitigen Verflechtungen Russlands mit der Ukraine, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine und die Bedeutung der ukrainischen Sprache beleuchtete.

Sehr aufschlussreich war auch das Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Andreas Kappeler.

Ich war drei Mal in der Ukraine, aber immer nur ganz im Westen. 1993, also nur zwei Jahre nach der Unabhängigkeit, reisten wir im Rahmen eines Studentenaustausches nach Lemberg (Lwiw). 2003 war ich mit drei anderen Personen aus der Schweiz in Transkarpatien, das im Norden an Polen, im Westen an die Slowakei und Ungarn und in Süden an Rumänien grenzt. Der Übergang zur übrigen Ukraine bildet das Karpatengebirge. Serhij und Irina, die heute in der Schweiz lebt, zeigten uns die Städte, Dörfer und Kultur Transkarpatiens sowie die waldreichen Karpaten. Wir machten Wanderungen mit dem Zelt und stiegen auf den höchsten Berg der Ukraine, den Hoverla.

Karpatendorf in de Nähe von Rachiw.

Einer der grössten Buchenurwälder Europas.

2010 reiste ich alleine nach Transkarpatien und besuchte verschiedene Projekte, unter anderem Forza, ein Schweizerisch-Ukrainisches Forstentwicklungsprojekt in Transkarpatien, das ukrainische Bergwaldprojekt in Lupachova sowie die mehrwöchigen Feldaufnahmen im grössten Buchenurwald Europas, Uholka-Schyrokyj Luh (NZZ-Artikel).

Vor wenigen Tagen schaute ich die Fotos wieder an. Ich erinnerte mich an die Menschen, denen ich damals begegnete. Und stellte mir die Frage, wo sie sich derzeit befinden, wie es ihnen jetzt wohl geht, ob sie ihr Land verteidigen oder auf der Flucht sind und sich vielleicht schon in einem anderen europäischen Land befinden.

Was seit dem 24. Februar geschehen ist, macht fassungslos und sehr traurig. Die Befindlichkeit vieler in ein paar Worte gefasst:
WUT, FASSUNGSLOSIGKEIT, SPRACHLOSIGKEIT, BETROFFENHEIT, ENTSETZEN, TRAUER, SORGEN, ANGST.

Aber auch das Schicksal Russlands, das den Weg von der Sowjetunion in eine gute Zukunft einfach nicht findet, beschäftigt. Gegenwärtig geht sehr viel kaputt. Zwischen der Ukraine und Russland, den zwei ungleichen Brüdern. Aber auch zwischen Europa und Russland.

Ob es sich um eine Zäsur oder wirklich um eine Zeitenwende handelt, wie viele kommentieren, wird man erst mit einigem Abstand beurteilen. Gegenwärtig spricht, so wie im Gespräch etwa Herfried Münkler erläutert, viel dafür, dass wir tatsächlich eine Zeitenwende erleben.

Fotostrecke Transkarpatien 2010 (.pdf-Dokument – 10 MB)

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