Was kommt nach der Pandemie?

Sonntag, 15. März 2020: Am Tag danach beginnt die «Ausserordentliche Lage».

8. Januar 2021 – Vor wenigen Tagen ist ein denkwürdiges Jahr zu Ende gegangen. Im Januar hatte noch niemand eine Vorstellung davon, dass ein Virus die Welt derart umpflügen würde. In der ersten Welle im Frühjahr war der Schock gross. Niemand wusste, was kommen würde. Die Menschen halfen sich gegenseitig und hielten sich an den neuen Regeln. Mit Beklemmung erinnere ich mich an die offiziellen Rundfunkdurchsagen, die die Menschen vor jeder Nachrichtensendung aufforderten, wenn immer möglich zu Hause zu bleiben. Über die Situation im Frühling berichtete ich bereits einmal («Ein Virus pflügt die Welt um»).

Dann kam der Sommer und mit ihm die Lockerungen. Doch etwas hing in der Luft. Einige Experten mahnten zur Vorsicht. Andere versuchten den Leuten eine Corona-App schmackhaft zu machen, die einen Beitrag leistet, Infektionsketten zu durchbrechen. Grosse Hoffnungen setzte man in eine Impfung zum Schutz vor dem Virus. Mit der wiedererlangten «Normalität» wuchs aber auch das Misstrauen gegenüber dem Staat und den Mächtigen. Kritisches Denken und Nachfragen ist als Korrektiv zweifellos wichtig. Bei offensichtlichen Verschwörungstheorien wird es in einer solchen Situation aber schwierig.

Eine zweite Welle wurde zwar prognostiziert. Als die Infektionszahlen, ausgehend von einem tiefen Niveau, ab dem Spätsommer kontinuierlich anstiegen, hoffte man diese abfedern zu können. Doch im Oktober, früher als erwartet, kam es zu einem starken Anstieg der Infektionen. Die Politik zauderte. Bund und Kantone schoben die heisse Kartoffel hin und her. In meiner Wahrnehmung waren selbst viele Experten vom raschen Anstieg überrascht. Viele gingen davon aus, dass lokale Infektionsherde mit gezielten Massnahmen unter Kontrolle zu bringen wären. Es kam, wie wir heute wissen, anders.

Nun steht die Impfung vor der Türe, rascher als erwartet. Eigentlich positiv. Und doch wird Kritik am Laufmeter geäussert. Und was besonders auffällt im Vergleich zur ersten Welle: Der Ton wird rauer, die gegenseitigen Anschuldigungen schärfer. Viele glauben zu wissen, was richtig ist. Es ist anspruchsvoll, den Überblick zu behalten. Die perfekte Lösung gibt es nicht. Es gibt nur bessere und schlechtere Lösungen. Und was für den einen gut ist, ist für eine andere vielleicht nicht so gut. Guter Rat ist teuer.

Die schmerzlichen Erfahrungen mit der Pandemie führt uns unsere eigene Verletzlichkeit deutlich vor Augen. Das ist schmerzhaft, könnte aber auch heilsam sein. Vor Kurzem war noch die Klimakrise das Topthema. Man sprach nicht mehr vom Klimawandel, sondern vom Klimanotstand oder der Klimakrise. Verschiedene Ereignisse rüttelten auf. Etwa die Bilder der unter der Trockenheit ächzenden Wälder. Oder die gigantischen Waldbrände in Skandinavien, Australien und der Westküste Amerikas.

Vor einem Jahr tauchte dann dieses kleine Virus auf – scheinbar aus dem Nichts. Den Risikoexperten war zwar bewusst, dass Pandemien bedrohlich sein können. Asien hatte diesbezüglich bereits mehr Erfahrungen gesammelt als die westlichen Industrieländer. Erstaunlich war zu sehen, wie rasch auch das Schweizer Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses geraten kann. Die Politik beschloss Massnahmen, die die Wirtschaft teilweise hart treffen. Das Kulturleben ist im Kriechgang – mit Folgen für die die Kulturschaffenden, die bereits in normalen Zeiten oft in prekären Verhältnissen leben. Die Staatsschulden schnellen in schwindelerregende Höhen. Dabei haben viele europäische Länder die Finanzkrise vor gut zehn Jahren noch gar nicht richtig verdaut und werden nun so hart getroffen, weil sie in den letzten Jahren einen harten Sparkurs fahren mussten. Diesbezüglich steht die Schweiz gut da. Doch es dämmert einem, dass auch wir lange in einer Schönwetterperiode gelebt haben. Und es ist schon so, wie Helmut Schmidt es treffend formuliert hat: «In der Krise zeigt sich der wahre Charakter.»

Winterruhe im Wald bei Zürich (8. 1. 2021).

Die Natur «schläft», als wäre nichts gewesen.

Stechpalme (Ilex aquifolium).

Verändert haben sich auf einen Schlag unsere menschlichen Beziehungen. Kein Händeschütteln mehr zur Begrüssung. Keine Baci und Abbracci. Masken – teilweise zwar mit originellen Motiven bedruckt – verdecken unsere Gesichtszüge und verbergen unsere Emotionen. Gerade den südländischen Kulturen fällt das schwer.

Politik, Staat, Experten, Wissenschaft und Medien sind gefordert. Ihr Verhältnis wird auf die Probe gestellt. Wer verkörpert die Wissenschaft? Wer wird als Experte befragt oder in eine Kommission berufen? Was ist, wenn sich die Wissenschaft nicht einig ist? Das ist bei neuen Fragen und Herausforderungen die Regel und nicht die Ausnahme. Wissenschaft lebt vom Diskurs. Dieser darf nicht abgewürgt werden. Wenn aber Experten sich profilieren und gewagte Thesen einzig dazu dienen, nur mehr Aufmerksamkeit zu erhalten, wird es heikel.

Der Grat im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politikberatung ist schmal. Als Leitschnur könnte meiner Meinung nach die Idee des «Honest Broker» dienen. Der Begriff stammt von einem amerikanischen Politikwissenschaftler und entstand vor etwa 15 Jahren, als Klimaforschende mit ihrer Rolle als Experten zunehmend unter Beschuss geraten waren. Erstrebenswert sind demnach «Ehrliche Makler», die Entscheidungsträger, Politiker und Bürgerinnen unterstützen, um gute Entscheidungen zu treffen. Was die Klimaforschenden schon länger beschäftigt, fordert nun Virologen und Epidemiologen heraus.

Was aber ist dafür entscheidend, damit sich Politik und Wissenschaft optimal ergänzen? Der italienische Journalist und Verleger Luca de Biase hat dazu folgende Frage in den Raum gestellt: «If we want to make a real and effective science-based policy, should we change politics or science?» Ich weiss die Antwort nicht. Ich weiss aber, dass sich etwas ändern muss. Wissen ist Macht. Und die Mächtigen müssen ihre Entscheidungen auf etwas abstützen, wollen sie nicht im Blindflug navigieren. Aber wie fügen wir diese beiden Systeme zusammen, damit es für die Menschen und die Gesellschaft – lokal, national und weltweit – zu guten Ergebnissen kommt?

Naturkräfte am Werk.

Orientierungshilfen sind wichtig.

Je länger ich nachdenke, desto wichtiger erscheint mir, dass die Umweltfrage im Lichte des Anthropozäns betrachtet wird. Der Begriff «Anthropozän» beschreibt die Tatsache, dass der Mensch den Planeten verändert und ins Erdsystem auf eine Art und Weise eingreift, die tiefe Spuren hinterlässt. Mit diesem gewaltigen Fussabdruck geht auch viel Verantwortung einher. Dieses neue Zeitalter begann schon vor einiger Zeit, erreicht inzwischen aber eine noch nie dagewesene Dimension. Mit anderen Worten: Der Mensch greift massiv in den Naturhaushalt ein und verändert die Ökosysteme in atemberaubendem Tempo.

Das Problem: Wir können das Rad nicht einfach zurückdrehen. Wir können uns aber besinnen und den Kurs ändern. Auch spüren wir die Folgen von Umweltzerstörung und verminderten Ökosystemleistungen immer mehr. Die ökologische Krise verschärft sich. Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere Verantwortung konsequent wahrnehmen -und unsere Lebenswelt zu einem guten Anthropozän machen. Damit Lebensraum für alle Lebewesen dieser Erde erhalten bleibt, und damit die Welt vor allem auch für uns selber lebenswert bleibt. «Wir müssen uns um unsere Zukunftsfähigkeit selbst kümmern», schrieb der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr. «Die Natur wird uns dazu nicht zwingen. In der Regel gilt, dass ‚Dummköpfe’, die ihre langfristigen vitalen Interessen vernachlässigen, einfach aus der biologischen Evolution entlassen werden». Und wir wissen es aus der Geschichte verschiedener Kulturen: Zivilisationen können auch scheitern und sich auflösen.

Einen Weg komplett zurück, den gibt es nicht. Und wenn es ihn gäbe, er wäre wegen seiner Radikalität keine erstrebenswerte Option. Die Perspektive eines guten Anthropozäns, das den Menschen als Teil der Erde begreift, dem Schutz der Ökosysteme hohe Priorität einräumt und auf eine kluge Kombination von Innovation, Genügsamkeit, Lebensqualität, Menschlichkeit und sozialer Verantwortung setzt, erscheint hingegen als zielführender Ausweg aus der Krise.

 

Eigener Beitrag «Ein Virus pflügt die Welt um» vom 10. April 2020

 

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