Ein Virus pflügt die Welt um

Verhaltensregeln am Billettautomaten (17. März 2020) in Oerlikon.

10. April 2020 – Begonnen hat es in China vor vier oder fünf Monaten. In einer Provinz namens Hubei. Die Stadt Wuhan sollte bald darauf weltweit bekannt werden. Sie gilt als Ausgangspunkt einer neuartigen Lungenkrankheit, bezeichnet als Covid-19 und verursacht durch ein Coronavirus. Die Stadt wurde am 23. Januar 2020 abgeriegelt. Innerhalb weniger Tage stampften die Chinesen zwei neu Krankenhäuser aus dem Boden.

Eigentlich hätte das ein deutliches Warnsignal für die westliche Welt sein sollen. Und doch wurden viele Länder, so auch die Schweiz, auf dem linken Fuss erwischt. Wir sind derzeit mit einer Situation mit geschlossenen Restaurants, Geschäften und Schulen konfrontiert, wie wir es noch nicht erlebt haben. Die Angst, das Gesundheitssystem würde durch mit dem neuen Virus infizierten Patienten überlastet, war so gross, so dass nicht nur eiligst die Plätze auf den Intensivstationen massiv erhöht wurden. Nicht sofort notwendige Operationen wurden auf später verschoben.

Die Furcht vor einer Infektion lässt uns auseinanderrücken. Social Distancing ist der (Un)Begriff der Stunde – Physical Distancing wäre eigentlich treffender. Was diese Massnahmen für das Zusammenleben der Menschen mittelfristig bedeuten, ist momentan nicht absehbar. Was aber auch stattfindet: Viele Menschen sind daran, die Natur und den Wald mit neuen Augen wieder zu entdecken. Und nicht wenige erleben das Blühen im Frühling intensiver denn je. Die nachfolgenden Bilder veranschaulichen die blühende und spriessende Pracht.

Blühender Kirschbaum …

Ein Nussbaum entfaltet seine Blätter …

Frisches Laub einer Birke …

 

Die europäischen Länder (und alle andern auch) machten ihre Grenzen weitgehend dicht. Auch das war vor kurzem noch unvorstellbar. Konstanz und Kreuzlingen trennen zwei Zäune – den ersten errichteten die Deutschen, den zweiten die Schweizer. Im Abstand von zwei Metern, der Distanz, die nun das Mass aller Dinge ist. Europa hat bisher keine gute Figur gemacht. Die Gefahr einer Spaltung in Nord- und Südeuropa, in ein romanisch-mediterranes und ein germanisch-nordisches Europa, ist wohl grösser denn je. Auch Osteuropa scheint auf einem eigenen Weg unterwegs zu sein. Die Briten haben sich bereits abgemeldet. Und die Schweiz weiss nicht recht, was sie in diesem Europa will. In Krisenzeiten rächen sich grundsätzliche Defizite gnadenlos. Oder mit den Worten von Helmut Schmidt: «In der Krise zeigt sich der Charakter.»

Die meisten Länder haben in den Krisenmodus mit Notverordnungen umgeschaltet. Noch vor wenigen Wochen, so auch am WEF in Davos (das übrigens just in jenen Tagen stattfand, als in Wuhan drastische Massnahmen ergriffen wurden), war der Klimaschutz eines der Topthemen. Viele Städte riefen vor einem Jahr den Klimanotstand aus. Einige Journalisten sehen nun den Klimaschutz bereits als erstes Opfer der Coronakrisa. Die NZZ am Sonntag benutzte dafür den Kopf von Greta Thunberg und posaunte penetrant hinaus: «Die Ökonomie der Aufmerksamkeit verlangt es, dass wir uns entscheiden: Entweder wir bekämpfen die Seuche, oder wir retten das Klima.»

Natürlich sind im Moment die Prioritäten klar. Aber es ist nicht einsichtig, jetzt schon ein Entweder-Oder zu proklamieren. Auch nicht, wenn man all die bekannten Mängel der gegenwärtigen Klimapolitik vor Augen hat. Die Zeitskalen sind völlig unterschiedlich. Alain Berset hat den Kampf gegen das Coronavirus als Marathonlauf bezeichnet. Recht hat er. Die Herkulesaufgabe des Klimaschutzes ist hingegen eine Generationenaufgabe. Es sind noch keine 30 Jahre her, als die Staatengemeinschaft, notabene inklusive der USA, 1992 am Erdgipfel in Rio de Janeiro die Klimakonvention verabschiedete. Eine Generation später ringen die Länder nun um einen gangbaren Weg, der mit dem Pariser Abkommen vorgezeichnet wurde, aber in der Umsetzung natürlich schwierig ist. Im Verlauf der nächsten 30 Jahre entscheidet sich, auf welches Ausmass an Erwärmung wir zusteuern. Und es wird die nächste und übernächste Generation sein, die in einer aufgeheizten Welt zu leben und mit den negativen wie positiven Folgen umzugehen hat. Und sie werden auch ihr Urteil über unsere Generation fällen. Über unseren Umgang mit Pandemien ebenso wie über die getroffenen Massnahmen zur Eindämmung der Klimaerwärmung. Unsere Generation wird Rechenschaft ablegen müssen, muss aber nicht fürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden (einzig bei den künftigen Renten bin ich mir gar nicht sicher). Künftige Historiker werden unser Handeln unter die Lupe nehmen und analysieren, was wir gemacht und was wir unterlassen haben. Vielleicht sollten wir uns an Antoine de Saint-Exupéry halten: «Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.»

Als lohnender erweist sich ein Vergleich von Pandemien mit unserem Umgang mit Naturgefahren wie Bergstürzen, Gletscherabbrüchen, Rutschungen, Murgängen oder Überschwemmungen. Insbesondere bei raschen Massenbewegungsprozessen müssen die Verantwortlichen oft rasch entscheiden, obwohl zu wenig Informationen zur Verfügung stehen. Etwa bei Evakuierungen. Die Folgen der Entscheidungen und auch der Nicht-Entscheidungen sind potenziell schwerwiegend und können über Leben oder Tod entscheiden. Entweder ist man mit einer Warnung zu früh (dann glaubt einem niemand) – oder man ist zu spät (und dann hagelt es Vorwürfe). Im günstigsten Fall fällt die Entscheidung genau zum «richtigen» Zeitpunkt, und alle machen mit. Vorsorge ist und bleibt ein schwieriges Geschäft.

Ganz allgemein stellt sich die Frage, wie Gesellschaft und Politik mit Ereignissen umgehen, die schlecht fassbar sind und die allgemeine Vorstellungskraft übersteigen. Will eine Gesellschaft sich vorsorglich für alle möglichen Extremszenarien absichern, so hat das Konsequenzen. Diejenigen, die dafür plädieren – seien es Politiker, Beamte, Intellektuelle oder Wissenschaftler – werden in normalen Zeiten in der Regel für verrückt erklärt. Und wenn dann etwas schiefläuft, sucht man nach den Schuldigen. Wie war das schon wieder mit der Kassandra, die vergeblich warnte und nicht verstanden wurde? (Und am Schluss sogar noch vergewaltigt und ermordet wurde.)

Zurück zum Virus und seines vermuteten Ursprungs in China. Inzwischen läuft die Diskussion, dass man das Virus nicht mit China in Verbindung bringen soll (vgl. Zeitschrift «Nature»). Asiatischstämmige Personen würden unter einer solchen Assoziation leiden. Diskriminierung und einfache Schuldzuweisungen sind fehl am Platz und entschieden abzulehnen. Doch für uns alle ist es enorm wichtig, zu verstehen, was, wo, wann, wie und vielleicht auch warum passiert ist. Alle wollen lernen und klüger werden. Und sollte sich bestätigen, dass das Virus tatsächlich auf einem Tiermarkt mit lebenden Wildtieren auf den Menschen übergesprungen ist, so müssen wir uns mit dieser Tatsache auseinandersetzen (vgl. auch WWF Report «The loss of nature and rise of pandemics»).

Auch ein anders Phänomen lässt aufhorchen. Eine nicht unübersehbare Anzahl Schädlinge aus Südostasien hat in den letzten Jahren Europa erreicht. Dazu zählen etwa der Pilz, der das Eschentriebsterben verursacht, die Kastaniengallwespe, die die Knospen der Edelkastanie befällt und die Kirschessigfliege an Beeren, Steinobst und Reben. Die Seidenstrasse als wiederbelebte Handelsroute zwischen Asien und Europa lässt grüssen. Man muss die Globalisierung nicht zurückdrehen wollen. Auf eine Einflussnahme zur Gestaltung derselben sollten wir hingegen nicht verzichten. Dazu und gerade auch angesichts der Coronakrise passt William Shakespeare: «Unser Schicksal hängt nicht von den Sternen ab, sondern von unserem Handeln.»

 

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