Un Parco Nazionale? No grazie!

Der Tourismus erhoffte sich durch den Nationalpark einen sanften Aufschwung.

10. Juli 2018 – Die Negativspirale dreht sich weiter. Nach dem klaren Nein zum Parc Adula vor zwei Jahren ist nun auch das Nationalparkprojekt im Locarnese gescheitert. Mit Konsequenzen: Die von Abwanderung betroffenen Bergtäler riskieren weiter auszubluten. Das Schweizer Konzept der Nationalpärke muss überdacht werden. Zunehmend unter Druck gerät auch der Naturschutz. Die Fronten verhärten sich.

Genau vor einem Monat, am 10. Juni 2018, stimmten die acht beteiligte Gemeinden über die Gründung des Parco Nazionale del Locarnese ab. Sechs Gemeinden lehnten ab – darunter die flächenmässig wichtigsten Gemeinden Centovalli und Onsernone. Nur Bosco Gurin und Ascona stimmten dem Vorhaben zu. Damit endet eine Projektierungs- und Kandidaturphase von über 15 Jahren abrupt.

Das Nein der Bevölkerung überrascht in gewisser Weise, denn sämtliche Gemeindeexekutiven standen klar hinter dem Projekt. Zudem sind in den Gemeinden in den letzten Jahren mehr als 150 Projekte in verschiedensten Bereichen realisiert worden. Dennoch kam die Abfuhr nicht aus heiterem Himmel. In den Wochen vor der Abstimmung habe ich südlich und nördlich des Gotthards niemanden getroffen, der eine klare Prognose gewagt hätte. Die meisten liessen durchblicken, dass sie kein gutes Gefühl hätten. Selbst Direktbeteiligte gaben an, es sei sehr schwierig abzuschätzen, wer für oder dagegen sei. Viele Stimmberechtigten standen vor der Frage, ob man auf den Kopf oder den Bauch hören sollte. Wer würde das Rennen machen?

Die Gegnerschaft des Nationalparks hat sich relativ spät formiert. Das Nein-Komitee setzte auf einfache Botschaften und brachte ein Flugblatt unter die Leute, das alle möglichen Verbote auflistete, die der Park angeblich mit sich bringen würde. Damit ist es gelungen, diffuse Ängste zu schüren. Auch schreckten die Gegner vor persönlichen Angriffen und Verunglimpfungen nicht zurück. Der Tessiner Journalist und Verleger Giò Rezzonico veröffentlichte kurz vor der Abstimmung dazu einen nachdenklich stimmenden Kommentar. Er sieht in den aktuellen Entwicklungen unter anderem die direkte Demokratie, auf die wir so stolz sind, infrage gestellt.

Vor der Abstimmung meldeten sich auch bekannte Tessiner Politiker zu Wort. Etwa der ehemalige FDP-Ständerat Dick Marty; er war selber an der Gesetzgebung beteiligt gewesen, als das Parlament vor mehr als zehn Jahren die Schaffung von Pärken von nationaler Bedeutung endlich ermöglichte. Der ehemalige SP-Nationalrat Franco Cavalli bekannte in einem Artikel, dass er als Einwohner von Ascona Ja stimmen werde. Doch diese Meinungsäusserungen hatten vielleicht einen kontraproduktiven Effekt. Es scheint, dass nicht wenige Menschen ein latentes Misstrauen in sich tragen und gegen so ziemlich alles sind: gegen Bern, gegen Bellinzona, gegen die eigenen Politiker, gegen die Städter und gegen die Naturschützer.

Plakat der Gegner: Inutile, dannoso, costoso.

Die Befürworter: Bello e possibile.

Einige Beweggründe der Skeptiker sind zumindest teilweise nachvollziehbar. Aber wo liegt denn eigentlich die Zukunft? Es ist sehr einfach, gegen etwas zu sein und einfach Nein zu sagen. Partikularinteressen sind allgegenwärtig, während das Interesse der Allgemeinheit einen immer geringeren Stellenwert hat. Demgegenüber ist es viel schwieriger, konstruktiv für einen neuen Weg in Zukunft einzustehen und nach neuen Lösungen zu suchen. So wäre es beispielsweise nötig gewesen, kritisch zu hinterfragen, ob die Argumente der Gegner, die sich vor allem an zusätzlichen Einschränkungen in den Kernzonen störten, diese populistisch aufbauschten und übermässig betonten, nicht doch sehr kurzsichtig sind. Gibt es denn taugliche Alternativen, die strukturschwachen Regionen neue Impulse verleihen könnten? Verzichtete man hier nicht allzu leichtsinnig auf eine Chance, die nicht einfach so wiederkommt? Manchmal hält der Zug, und wenn man nicht einsteigt, fährt er weiter. Doch anders als beim Taktfahrplan folgt der nächste Zug nicht in einer Stunde …

Der neue Nationalpark hätte primär den Tälern und ihre Bevölkerung etwas gebracht. Ein wichtiges Anliegen der Pärke von nationaler Bedeutung ist denn auch der Aspekt der Regionalentwicklung in strukturschwachen Gebieten. Und solange der Tourismus nicht überbordet, würde von neuen Nationalpärken auch die Natur profitieren. In den Kernzonen hätte sie sich frei entwickeln können. Ein solches Bekenntnis in der heutigen Gesellschaft, die so sehr vom Nützlichkeitsdenken geprägt ist, wäre heilsam für das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

Nun wird sich zeigen müssen, wie sich die Täler nordwestlich von Locarno, in denen wirtschaftlich nicht mehr gerade viel läuft, weiterentwickeln. Akzentuiert sich die Abwanderung, so würde von diesem Rückzug ironischerweise gerade die freie Naturentwicklung profitieren. Zyniker sagen, man bekomme auch ohne Park mehr Wildnis. Das stimmt, aber es wäre eben ein viel stärkeres Zeichen, wenn sich die Menschen aktiv für das Zulassen von neuer Wildnis aussprechen würden. Die gepflegte artenreiche Kulturlandschaft, die gerade auch für die Biodiversität ein wichtiger Pfeiler ist, wird hingegen ohne Park zweifellos noch stärker unter Druck geraten.

Nach der Ablehnung des Nationalparks im Locarnese geben insbesondere drei Aspekte zu denken:

Erstens die Verrohung der Diskussionskultur und die bewusste Verbreitung von falschen oder irreführenden Informationen. Gegen Fake News scheint kein Kraut gewachsen. Dies ist natürlich auch bei anderen politischen Debatten der Fall. Nach der Abstimmung über den Parc Adula äusserte sich Gion A. Caminada in einem Interview im St. Galler Tagblatt. Der Bündner Arichtekt lebt in Vrin, in einem kleinen Dorf zuhinterst im Lugnez, das zum Parc Adula gehört hätte. Caminada weiss um die Bedeutung von Abhängigkeiten und Kooperation zwischen Tal- und Bergbevölkerung. Bei der Debatte hätte ihn vor allem geschmerzt, dass das Bewusstsein für das ziemlich gut funktionierende System in unserem Land gefehlt habe, ebenso der Respekt vor den Menschen, die daran arbeiteten. «Die Art, wie die Diskussion geführt wurde, war zum Teil ziemlich schlimm», sagte er. Die Personen, die sich für das Projekt im Locarnese engagierten, würden das gewiss bestätigen können.

Zweitens manifestiert sich immer stärker ein Graben zwischen Stadt und Land beziehungsweise zwischen Flachland und Berggebiet. Für die Schweiz mit ihren starken Gegensätzen zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung ist ein Ausgleich existenziell. Doch das gegenseitige Verständnis ist am Bröckeln. Will man Gegensteuer gehen, so ist in den nächsten Jahren enorm viel in einen neuen, konstruktiven Dialog zu investieren.

Drittens hat die Aversion gegenüber Organisationen wie Pro Natura und dem WWF, die während den Nationalpark-Diskussionen gewiss nicht immer geschickt agierten, ein besorgniserregendes Ausmass angenommen. An einer Informationsveranstaltung in Vrin habe ich selber erlebt, wie ein Talbewohner sich öffentlich beklagte, die Naturschutzorganisationen würden einfach alles verhindern. Das ist natürlich stark übertrieben, aber eben eine weit verbreitete Meinung. Hier dürfte auch die emotional aufgeladene Debatte über den Wolf mitspielen. Der Naturschutz ist an verschiedenen Fronten in der Defensive. Neue Strategien und Koalitionen sind dringend nötig.

 

Artikel über den Parco Nazionale del Locarnese:
«Kommt der Nationalpark im Locarnese?»Textversion mit Fotos (.pdf)

 

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