Was uns Charles Ferdinand Ramuz heute sagt

2015 befand sich hier die Gletscherzunge des Morteratschgletschers.

11. Juni 2023 – Vor 101 Jahren, also 1922, erschien ein Buch des Westschweizers Schrifstellers Charles Ferdinand Ramuz. «Présence de la mort» lautete der Originaltitel. Vielleicht war der Titel unglücklich gewählt. Das Buch war nämlich kein Erfolg. In der Deutschschweiz wurde es erst jetzt nach einer Ausstellung in Zürich wieder entdeckt und auf deutsch übersetzt.

Der Originalausgabe vorangegangen war der Hitzesommer 1921 mit einem Temperaturrekord von 38.3 Grad in Genf. Ramuz schildert, wie die Menschen auf eine düstere Meldung aus der Wissenschaft reagieren. Wegen eines Unfalls im Gravitationssystem wird die Erde in die Sonne stürzen. Deshalb auch der Titel der deutschen Übersetzung («Sturz in die Sonne»).

Ganz am Anfang des Buchs schreibt Ramuz: «Dann kamen die grossen Worte; die grosse Botschaft wurde von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt. Die grosse Nachricht bahnte sich die ganze Nacht mit Fragen und Antworten ihren Weg über das Wasser. Gehört, allerdings, wurde sie nicht.» Und einige Sätze weiter: «Alles Leben wird enden. Es wird immer heisser werden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende». Und das dritte Kapitel beginnt so: «Da fingen sich also die Nachrichten zu verbreiten an, zunächst von den Redaktionen nur ungläubig aufgenommen; dann auf die Titelseite der Zeitungen gehoben, gehisst wie schwarzweisse Fahnen, Trauerfahnen.

Und wenig später wird ein Dialog geschildert: «Die Frau schüttelt den Kopf, während sich ihre Hände vor ihr heben und wieder senken: ‚Aber‘, sagt sie, ‚es könnte doch sein, dass es stimmt …’»
«’Dummes Zeug‘ fängt da der Schreiner an. ‚Die Nachricht kommt aus Amerika, Sie wissen doch, was das bedeutet. Die Zeitungen haben sich nicht mehr verkauft; was soll man da machen?‘ Fährt der Mann, der Schreiner der Gegend, fort, ein hagerer Mann mit schlauer Miene, der vor einem Kartonrechteck mit aufgenähten Kragenknöpfen steht. ‚Die lügen hemmungslos …’»

Man reibt sich die Augen. Das Muster kommt einem bekannt vor. Bei Ramuz war es ein Gravitationsunfall. Heute sprechen wir von der Klimaerwärmung oder der Klimaerhitzung. Und der Klimakrise.

Die Erkenntnisse sind glasklar. Wir müssen die Treibhausgasemissionen rasch senken. Sehr rasch sogar. Doch vor zwei Jahren scheiterte das CO2-Gesetz an der Urne. In einer Woche stimmen wir wieder ab. Über den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative. Eine weitere Chance, den Weg Richtung «Netto Null» als Ziel festzulegen. Der Umbau wird uns ziemlich viel kosten. Aber was ist die Alternative? Ignorieren und weiter machen wie bisher? Auf technische Lösungen warten, bis es viel billiger wird? Nicht dass ich gegen Technik bin. Wir brauchen die Technik auf jeden Fall. Aber wir brauchen eben noch viel mehr Wandel. Könnte das der Grund sein, weshalb plötzlich wieder so viele skeptische Stimmen zu hören sind?

Bei Ramuz war es ein Fehler im Gravitationssystem, die Erde war aus ihrer Umlaufbahn geraten. Niemand war daran schuld. Das Schicksal besiegelte das Ende. Heute ist es anders. Wir müssen in den Spiegel schauen. Und wissen das auch. Wir haben es mit einem anderen Systemfehler zu tun. Weil das Herausblasen von Treibhausgasen nie wirklich einen Preis hatte, häuften wir uns eine gewaltige Hypothek in der Atmosphäre an. Und das heizt nun so richtig ein. Die Kosten, die ein heisser Planet verursacht, könnten sehr hoch werden. Und die damit verbundenen gesellschaftlichen und geopolitischen Verwerfungen sehr ungemütlich.

Beitrag zum Buch von Charles Ferdinand Ramuz auf SRF 2

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