Von Wölfen und Emotionen

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Die Wolfsfalle bei Bignasco im Maggiatal. (Foto: Lukas Denzler)

30. Dezember 2015 – Es heulen wieder Wölfe in der Schweiz! Vor einigen Jahrzehnten in Europa fast ausgerottet, sorgt die Rückkehr des Raubtiers für böses Blut. Die Emotionen gehen hoch. Während der Wolf für die einen ein Sinnbild für Wildnis und ein wichtiges Glied naturnaher Lebensräume ist, machen sich andere Sorgen um ihre Nutztiere und sehen die eigene Existenz bedroht.

Der Wolf eignet sich als Sündenbock und wird für billige Politik missbraucht. Ängste werden geschürt. Viele Naturschützer und Wolfsympathisanten, die in der Rückkehr des Raubtieres nur Gutes sehen, ignorieren ihrerseits die jahrhundertalte schwierige Koexistenz der Gesellschaft mit dem wilden Tier. Die Beziehung zwischen Menschen und Wolf war ambivalent, und ist es heute noch. Dass Wölfe den Menschen in vergangenen Zeiten nie gefährlich wurden, widerlegen verschiedene Quellen. Urs Hafner hat dies in einem Artikel in der NZZ eindrücklich aufgezeigt.

Die Situation früher lässt sich nicht mit heute vergleichen. Der Historiker Jon Mathieu erläutert im ergänzenden Interview, wie sich unsere Assoziationen zum Wolf in relativ kurzer Zeit gewandelt haben. Die urbane Bevölkerung kann sich kaum mehr vorstellen, wie der Wolf die Herden unserer Vorfahren bedrohte und die Hirten forderte. Bei Bignasco im oberen Maggiatal ist eine eindrückliche Wolfsfalle erhalten geblieben. Durch eine kleine Öffnung wurde der Wolf durch ein lebendes Beutetier in die Falle gelockt, dabei löste er einen Mechanismus aus, der die Öffnung verschloss – der Wolf war gefangen. Die «Lüèra» ist in Urkunden aus dem 15. Jahrhundert bereits erwähnt. Der jahrhundertlange Kampf hat sich in das kollektive Bewusstsein der Menschen eingebrannt. Märchen und Mythen haben dazu beigetragen.

Nun erobert sich das Raubtier seinen einstigen Lebensraum zurück. Dort wo sich in den Alpen die Landwirtschaft zurückzieht, breitet sich der Wald aus. Zusammen mit hohen Wildbeständen sind die Voraussetzungen für das Überleben von Wölfen und Wolfsrudeln gegeben. In der Schweiz leben derzeit vermutlich 20 bis 30 Wölfe. Am Calanda bei Chur ist seit 2012 ein Wolfsrudel heimisch; seither sind bereits vier Mal Welpen aufgezogen worden. Im September 2015 wurde ein zweites Rudel im Valle Morobbia bei Bellinzona beobachtet.

Auch im Wallis könnte sich bald ein Rudel bilden. Dort ist der Wolf ein höchst brisantes Thema. Staatsräte lassen sich dabei auch zu problematischen Äusserungen hinreissen. Angesprochen auf den Wolf, sagte etwa Staatratspräsident Maurice Tornay 2013 in einem Interview mit einem Lokalsender am Rande einer Veranstaltung in Fiesch: «Sehen, schiessen, schaufeln, schweigen». In den USA wird die Redewendung «shoot, shovel and shut up» für die illegale Eliminierung einer unerwünschten, aber geschützten Tierart verstanden. Im Wallis stellen sich mit der Nebenerwerbslandwirtschaft und der Schafzucht tatsächlich auch spezielle Herausforderungen. Laut einer Meldung der Gruppe Wolf Schweiz verursachen 20 Prozent der in der Schweiz lebenden Wölfe 60 Prozent der Risse an Nutztieren, weil im Wallis der Herdenschutz mangelhaft sei. In Graubünden würden gleich viel Schafe gesömmert wie im Wallis. Vom Wolf gerissene Nutztiere werden ihren Besitzern entschädigt. Die Präsenz des Wolfes gefährdet die Sömmerung von Nutztieren somit nicht unmittelbar; ihre Zukunft hängt jedoch von der Möglichkeit ab, Herden vor dem Wolf zu schützen sowie in hohem Masse von den staatlichen Zuschüssen für die Alpwirtschaft ab.

Am Calanda hat es bisher relativ wenige Probleme gegeben. Es wäre interessant, der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb die Diskussion über den Wolf in Graubünden bisher anders verlief als im Wallis. Doch am Calanda scheint sich die Situation zuzuspitzen. Die Wölfe nähern sich offenbar immer mehr den Siedlungen. Sie folgen ihren Beutetieren, und die Hirsche steigen im Winter in die Talböden hinab. Die Stimmung in Vättis im Taminatal ist angespannt – ein Video der NZZ zeigt dies eindrücklich auf.

Das Bundesamt für Umwelt stimmte dem Gesuch der Kantone Graubünden und St. Gallen, zwei Jungwölfe aus dem Calandarudel abzuschiessen, kurz vor Weihnachten zu. Damit sollen die Wölfe wieder scheuer werden. Die Massnahme ist umstritten, gemäss der revidierten Jagdverordnung in bestimmten Fällen aber möglich. Laut den Umweltschutzorganisationen werden Futterquellen in Siedlungsnähe noch nicht konsequent vermieden, beispielsweise so genannten Anfütterungsstellen für die Fuchsjagd. Es gibt sogar Stimmen aus Vättis, die der Ansicht sind, dass so bewusst Konflikte mit dem Wolf provoziert würden.

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Einmal gefangen, konnte der Wolf nicht mehr heraus.

Die ersten Wölfe wanderten 1995 aus Italien in die Schweiz ein. Jetzt bilden sich erste Rudel. In diesem emotionalen Umfeld alle Interessen unter einen Hut zu bringen, ist ein Balanceakt. Dass die Wölfe in der Schweiz wieder ganz verschwinden, ist undenkbar. Auf den Abschuss von Tieren werden neue Wölfe einwandern. Die Gesellschaft muss lernen, mit dem Wolf zu leben. Dieser Lernprozess braucht Zeit, und es ist nicht klug, die Geschichte der schwierigen Koexistenz des Menschen mit dem Wolf einfach auszublenden. Das Zusammenleben kann durchaus gelingen, denn die Verhältnisse haben sich gewandelt. So sind wir beispielsweise nicht mehr auf Gedeih und Verderb auf die lokale Nahrungsmittelversorgung angewiesen. Konnte der Wolf früher eine existenzielle Bedrohung für lokale Gemeinschaften bedeuten, so haben wir heute die Möglichkeit, mit einem klugen Management die Konflikte zu entschärfen. Nutzen wir diese Chance.

 

Ein Bündner Jäger hat im Morgengrauen mit einem Handy das Wolfsgeheul des Calandarudels aufgenommen.

Videofilm der NZZ über Vättis und der Wolf (etwas herunterscrollen)

 

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