Spitzt sich die Wald-Wild-Frage (wieder) zu?

Eiche mit Einzelschutz in Stadel (ZH).

5. November 2017 – Es gibt Konflikte, wo sich der Knoten offenbar einfach nicht durchtrennen lässt. Beim Wald-Wild-Problem dürfte es sich um einen solchen Fall handeln. Wildlebende Huftiere wie Hirsche, Gemsen und Rehe wollen überleben. Die Tiere haben es in unser stark genutzten Landschaft gewiss nicht einfach. Und so beissen sie, um sich zu ernähren, schon auch mal Knospen von jungen Bäumchen ab. Hirsche schälen manchmal, allerdings nur lokal, die Rinde ab (Foto). Und der Rehbock fegt an kleinen Stämmchen, um den Bast von seinem Geweih zu lösen, oder er markiert so sein Revier.

Die Förster sehen das natürlich nicht gerne. Vor allem wenn es – trotz genügend Licht – mit der natürlichen Verjüngung nicht klappen will. Der Wald kennt zwar andere Zeiträume. Dennoch drängt oft die Zeit, wenn sich etwa die Schutzwirkung eines Wald­bestandes verschlechtert. Das Eidgenössische Waldgesetz gibt im Zweckartikel vor, dass der Wald als naturnahe Lebensgemeinschaft zu schützen ist. Das beinhaltet auch, dass wildlebende Tiere Platz haben sollen. Aber auch Waldwirtschaft soll möglich sein. Und der Wald hat Menschen und erhebliche Sachwerte vor Naturgefahren zu schützen. Mit anderen Worten:
Der Wald soll seine verschiedenen Funktionen erfüllen.

Kürzlich publizierte der Schweizerische Forstverein ein Positionspapier zur Wald-Wild-Frage. Und sorgte damit bei Jägern und Wildtierökologen prompt für rote Köpfe. Die Warnung der Förster, bei andauernd hohem Wilddruck sei die Erfüllung der Waldfunktionen ernsthaft gefährdet, wird locker in den Wind geschlagen.

Dabei zeigte sich im letzten Herbst bei der Präsentation der Ergebnisse des gemeinsam vom BAFU und der WSL durchgeführten Forschungsprogramms «Wald und Klimawandel» deutlich, dass Laubhölzer und auch die Weisstanne wichtiger werden im zukünftigen Waldgefüge. Doch gerade diese Baumarten sind besonders beliebt bei den Huftieren. Mehrere Waldfachleute bemängelten denn auch, dass dieser Frage im Forschungsprogramm nicht genügend Beachtung geschenkt worden sei.

Stark «verbissene» Weisstanne.

Vielleicht passt dazu auch die aktuelle Revision des Bundesgesetzes über die Jagd und den Schutz wildlebender Säugetiere und Vögel (JSG). Auslöser dafür war eigentlich der Umgang mit dem Wolf und die Erfüllung parlamentarischer Vorstösse. Laut dem bundesrätlichen Vorschlag, über den das Parlament noch diskutieren wird, soll auch Artikel 3 des Jagdgesetzes angepasst werden. Bisher ist in Absatz 1 zur Jagdplanung festgehalten, dass die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder und die natürliche Verjüngung mit standortsgemässen Baumarten sichergestellt sein sollen. Die Formulierung ist in den Entwurf der Gesetzesrevision für die Anhörung unverändert übernommen worden.

In ihrer Stellungnahme setzte sich insbesondere die Konferenz der kantonalen Beauftragten für Natur- und Landschaftsschutz (KBNL) für eine Anpassung ein. Laut der KBLN kann die Formulierung in dieser absoluten Form nicht unterstützt werden, weil dazu die Schalenwildbestände lokal derart reduziert werden müssten, was sämtlichen wildbiologischen Grundsätzen widersprechen würde. Die KBLN beantragte, das Ziel wie folgt zu formulieren: «Die natürliche Verjüngung der Wälder mit standortgerechten Baumarten ist anzustreben.» Die Kantone Nidwalden und Uri forderten hingegen eine schärfere Formulierung: Die natürliche Verjüngung solle nicht nur, sondern sie müsse sichergestellt sein (vgl. Vernehmlassungsbericht, Seite 13).

In der Botschaft des Bundesrates zur Gesetzesrevision wird nun argumentiert, dass im Jagdgesetz nur Ziele formuliert werden sollten, die auch mit jagdlichen Massnahmen erreicht werden können (vgl. Botschaft, Seite 17). Die Sicherstellung der natürlichen Verjüngung könne durch die jagdliche Regulierung alleine jedoch nicht gewährleistet werden. Neu soll es deshalb heissen: «Die Regulierung der Wildbestände wird so gestaltet, dass die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder und die natürliche Verjüngung mit standortgerechten Baumarten möglich sind.» Und weil sich damit eine sprachliche Differenz zum Pendant im Bundesgesetz über den Wald (WaG) ergibt, soll dieses gleich auch angepasst werden. Die bisherige Formulierung «gesichert» soll durch «möglich» ersetzt werden. Neu würde Artikel 27 Abs. 2 WaG folgendermassen lauten: «Die Kantone regeln den Wildbestand so, dass die Erhaltung des Waldes, insbesondere seine natürliche Verjüngung mit standortgerechten Baumarten, ohne Schutzmassnahen möglich ist; wo dies nicht möglich ist, treffen sie Massnahmen zur Verhütung von Wildschäden» (vgl. Entwurf des revidierten Jagdgesetzes, Seite 7).

Was steckt hinter diesen sprachlichen Anpassungen? Ist es bloss eine Nachführung an die realen Verhältnisse? Also ein Eingeständnis, dass ein erfolgreiches Aufbringen von erwünschten Baumarten ohne Einzelschutzmassnahmen oder Zaun oft unmöglich ist (was bei Waldspaziergängen unübersehbar ist). Darüber wäre eine ehrliche Diskussion zu führen. Die Revision des Jagdgesetzes und die quasi durch die Hintertüre angestrebte Anpassung des entsprechenden Artikels im Waldgesetz könnten Anlass dafür sein. Die langfristigen möglichen Konsequenzen müssen in ganzheitlicher Perspektive debattiert werden. Denn die Baumarten, die heute aufkommen (oder eben nicht), bilden in fünfzig bis hundert Jahren das Hauptgerüst unseres Waldes. Ein Wald, der notabene im künftigen Klima zu bestehen hat.

Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die Kantonale Initiative «Wildhüter statt Jäger», über die die Zürcher Stimmberechtigten zu befinden haben. Das radikale Begehren setzt die Jäger unter Druck; Nervosität macht sich breit (NZZ-Artikel). Vor diesem Hintergrund zu sehen ist auch, dass die Jägerschaft sich stärker bemüht, über ihre Tätigkeit zu informieren und auch das Gespräch mit der Bevölkerung sucht (vgl. Fotos zum Anklicken).

Etwas ausführlichere Version dieses Artikels (.pdf-Dokument)

Weitere Fotos:
Schälschaden an Kastanienstämmen bei Menzonio (TI) im Val Lavizzara: Foto 1, Foto 2
Waldföhre in Stadel (ZH): Einzelschutz
Jagd unter Druck – Dialog mit der Bevölkerung: Foto 1, Foto 2

 

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