Die Rückeroberung

Pflanzen übernehmen – bald ist nichts mehr vom Gebäude zu sehen.

7. August 2022 – Am Vorabend des Nationalfeiertags reiste ich an den Vierwaldstättersee. Die Wanderung von Weggis durch die Chesteneweid nach Vitznau mache ich immer wieder gerne. In der Chesteneweid wachsen Kastanienbäume. Sie ist eine der grössten Kastanienselven der Zentralschweiz. Die offene Landschaft bietet schöne Ausblicke auf den Vierwaldstättersee.

Oberhalb von Weggis ist mir ein von Pflanzen überwuchertes Haus aufgefallen. Beim Anblick kam mir Franz Hohlers «Rückeroberung» in den Sinn. In der Erzählung beschreibt er, wie eines Tages ein Steinadler sich auf das Dach des Nachbarhauses setzt. Nach einigen Wochen beginnt das Adlerpaar einen Horst zu bauen. Hirsche wandern in die Stadt ein und blockieren den Verkehr.

Völlig kritisch wird die Situation, als Wölfe auftauchen und einen Buben töten. In der Erzählung von Hohler heisst es: «Von nun an herrschte in Zürich der Ausnahmezustand. Nicht, dass er ausgerufen worden wäre, aber er war da.» Als schliesslich noch Efeu zu wuchern beginnt, werden Häuser und Strassen überwachsen.

Franz Hohler veröffentlichte die Geschichte 1982. Vierzig Jahre später haben wir zwar keine Wölfe und Hirsche in Zürich, sie sind aber nicht mehr weit weg. Wölfe bilden Rudel und breiten sich in den Alpen aus. Beide Tierarten sind im Begriff, das Mittelland zu besiedeln. Und die Frage, die schon Franz Hohler angetippt hat, ist aktueller denn je: Wie gelingt die Koexistenz zwischen Menschen und wildlebenden Tieren? Welche Regeln gelten und wer bestimmt diese? Das Jubiläum der «Rückeroberung» kommt zur richtigen Zeit.

Fotos von der Chesteneweid:
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Exkurs zur Raumplanung und zum Landschaftsschutz:
Das von Pflanzen überwucherte Haus steht übrigens am obersten Rand von Riedsort. Diese heterogene Überbauung am Rigihang zwischen Weggis und Vitznau wirkt heute wie aus einer anderen Zeit (vgl. Foto). Der 1969 durch das Volk angenommene Verfassungsartikel über die Raumplanung konnte seine Wirkung entfalten. Im März 1972 erliess das Parlament den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung. Artikel 1 legte fest, dass die Kantone ohne Verzug bis Ende 1972 Gebiete zu bezeichnen hatten, die ihm Rahmen einer langfristigen Raumplanung voraussichtlich nicht zur Besiedlung bestimmt sind und deren Überbauung zur Wahrung öffentlicher Interessen, besonders der Erhaltung von Erholungs- und Schutzgebieten, vorläufig einzuschränken oder zu verhindern ist. Der Schutz als provisorische Freihaltegebiete war nötig, denn das Bundesgesetz über die Raumplanung trat erst am 1. Januar 1980 in Kraft.

 

Weitere Beobachtungen und Geschickten