Das Bergell und der Cengalo

Umfahrungsstrasse bei Bondo und der Piz Cengalo in der Val Bondasca.

5. Juli 2019 – Der 23. August 2017 veränderte das Leben im Bergell auf einen Schlag. Der grosse Bergsturz am Piz Cengalo ging direkt in einen zähflüssigen Schuttstrom über und stiess bei schönstem Wetter bis nach Bondo im Talboden vor. Bis zum 31. August 2017 beförderten weitere Murgänge viel Material nach Bondo und richteten grosse Schäden an Infrastrukturen und Häusern an. Bondo wurde evakuiert und die Umfahrungsstrasse blieb mehrere Wochen gesperrt. Das Phänomen der Bodenverflüssigung, wie es etwa bei Erdbeben vorkommt, ist grundsätzlich bekannt. Die Verkettung der verschiedenen Prozesse – zuerst ein Bergsturz auf Gletschereis, dann die Verflüssigung von Material mit nachfolgendem Schuttstrom – ist weltweit bisher sehr selten beobachtet worden. Die dokumentierten Fälle lassen sich laut Fachleuten auch nicht wirklich mit den Ereignissen von Bondo vergleichen.

Vom Talboden sieht man bei schönem Wetter den Piz Cengalo und seinen Nachbarn, den Piz Badile (Foto oben und am Ende des Artikels). In der Val Bondasca hatten die Einwohner von Bondo ihre Maiensässe und ihre Alpen. Die beiden markanten Berge sind auch auf Hausfassaden abgebildet (Foto). Der Bergsturz am Cengalo war erwartet worden. Bei Bergsteigern gilt der Berg als unberechenbar. Als sich aber danach gleich ein Schuttstrom durch die Val Bondasca wälzte, war der Schock in Bondo und im Bergell gross. Alle waren überrascht worden.

Blick auf Bondo.

Zusammenfluss von Maira und Bondasca.

Hängebrücke mit Lichtsignal.

Hängebrücke mit Lichtsignal.

Ich hatte die Gelegenheit, 20 Monate nach den Ereignissen am Cengalo und in Bondo das Bergell zu besuchen und für das TEC21 ein Stimmungsbild einzufangen. Mit Menschen sprechen zu können, die das alles hautnah erlebt haben, ist sehr eindrücklich. Sich dem Geschehenen nicht beugen, wieder aufstehen und den Wiederaufbau an die Hand nehmen. So habe ich es vor Ort erlebt. «Die Natur hat entschieden – und jetzt müssen wir damit umgehen», sagte mir ein Bergeller, der einiges von der Welt gesehen hat, wieder ins Tal zurückgekehrt ist und nun alles an vorderster Front miterlebt hat.

Eines der ersten Projekte der Gemeinde war der Bau der provisorischen Hängebrücke zwischen Bondo und Promontogno an der Stelle der alten Brücke «Punt», die eiligst abgerissen wurde. Wäre sie verstopft worden, hätte sich weiteres Material womöglich direkt in den Dorfkern von Bondo ergossen. Die Hängebrücke schwingt sich in sicherer Höhe über die Bondasca. Trotzdem ist sie mit einem Lichtsignal und einer Sirene ausgestattet. Und mit einem Brückenbuch! Es ist bereits das dritte oder vierte Buch seit der Eröffnung im April 2018 (Foto). Auf der ersten Seite ist zu lesen: «Ogni ponte dovrebbe unire due sponde: l’utilità e la bellezza.» (Foto).

Der Spruch mag auch für das definitive Schutzbautenprojekt gelten. Die Planung dafür läuft auf Hochtouren. Das geräumte Auffangbecken ist provisorisch vergrössert worden. Die Wunde klafft direkt neben Bondo. Am anderen Rand des Beckens trohnt das Gemeindehaus. Und alle, die auf der Umfahrungsstrasse die Bondasca überqueren, blicken direkt ins Auffangbecken. Zur optimalen landschaftlichen Eingliederung wird derzeit ein Gestaltungswettbewerb durchgeführt. Die Bergeller Behörden setzen sich dafür ein: Wenn schon, dann soll es auch möglichst schön gebaut werden. Beim Besuch vor Ort versteht man das Anliegen. Das Bauwerk wird das Bild des unteren Bergells für Jahrzehnte prägen. «Jetzt haben wir die Chance, und wir müssen es gut machen», sagte mir ein anderer Bergeller, der zuerst skeptisch war, als er von der Idee eines zeitaufwendigen Gestaltungswettbewerbs hörte. Man spürt es: Der Cengalo hat das Bergell verändert. Das folgenschwere Ereignis hat bei den Menschen aber auch Energien freigesetzt. Bei der Suche nach dem Weg in die Zukunft, kann dies dem Tal nützlich sein.

Soglio mit den bekannten Bergeller Bergen.

Einen wunderbaren Blick auf Bondo hat, wer den Wanderweg von Promontogno nach Soglio hochsteigt. Mit zunehmender Höhe schaut man auf den Talboden hinunter, sieht auf die grosse Deponie, in der das Cengalo-Material aus dem Auffangbecken aufgeschichtet wurde (Foto). Und von der Terrasse über dem Tal von Soglio blickt man hinüber zu den majestätischen Bergeller Bergen (Foto). In Soglio selber beeindruckt der Palazzo Salis. Und es gibt im schmucken Dorf auch noch einiges mehr zu entdecken (Foto). Doch die Welt steht nicht still: Weil mir der direkte Weg versperrt war (Foto), hätte ich fast das kleine Postauto nach Promontogno verpasst.

 

 

 

 

Weitere Fotos:
Bondo, Cengalo und Badile: Foto 1Foto 2Foto 3Foto 4

Artikel im TEC21 – Der Cengalo: Prüfstein fürs Bergell – Interview mit Christian Wilhelm «Eine Periodizität gibt es nicht»

 

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